Ein Erfahrungsbericht von Renate Scholz

Nyungne ist eine Meditation auf den Tausendarmigen Chenresig, dem Aspekt des grenzenlosen Mitgefühls aller Buddhas. Die Übertragungslinie dieser Praxis geht auf die indische Königstochter Lakminkartchen, die ungewöhnlich schöne Schwester des berühmten Dharmakönigs Indrabodhi zurück.

Diese eher unter dem tibetischen Namen Gelongma Palmo bekannte Prinzessin erkrankte eines Tages an einer besonders ansteckenden Form von Lepra. Dadurch wurde ihr Körper so entsetzlich verunstaltet, daß niemand mehr ihren Anblick ertragen wollte. Auch die Ärzte wußten keinen Weg, sie zu heilen. Da sie ja auch zur Quelle der Ansteckung zu werden drohte, verließ sie schließlich den Palast und zog sich in eine Einsiedelei zurück.

Um ihre verbleibende Lebenszeit intensiv der Dharmapraxis widmen zu können, nahm sie die Nonnengelübde. Außerdem erhielt sie Meditationsanweisungen auf die elfköpfige, tausendarmige Form von Chenresig, der zu ihrer Hauptpraxis wurde.

Trotzdem verschlimmerte sich ihr körperlicher Zustand zunehmend: Ihre Glieder begannen abzufaulen und der Körper wurde zu einer einzigen Wunde, so daß sie auch nachts nicht mehr schlafen konnte. In dieser Zeit hatte sie schließlich die Vision von einer strahlend weißen Gestalt, die aus einer großen Vase reines Wasser über ihren zerstörten Körper goß. Dabei fühlte sie, daß sich die Krankheit wie die Haut einer Schlange ablöste und als sie erwachte, fand sie ihren Körper tatsächlich vollständig geheilt und erneuert. Tief bewegt meditierte sie daraufhin voller Hingabe auf Chenresig, den sie in der weißen Gestalt erkannt hatte, und sie erlangte einen sehr hohen Grad der Verwirklichung.

Das von Gelongma Palmo entwickelte Fastenritual (Nyungne) gehört zum Kriyatantra, der Tantraklasse, in der besonders Reinigung betont wird. Die Praxis ist verbunden mit Schweigen und den sogenannten “Sodschong”‑Gelübden, die man jeden Morgen bei Sonnenaufgang nimmt: nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, keine sexuellen Aktivitäten, keine Drogen, kein Luxus und besonderen Schmuck, Tanz oder Gesang und nur zu den vorgegebenen Zeiten essen und trinken.

Ein Nyungne dauert zwei Tage, wobei der erste Tag, der “Nyene”‑Tag lockerer ist, und der zweite Tag, der eigentliche “Nyungne”‑Tag sehr streng ist mit Schweigen und Totalfasten. Durch die Gelübde wird einerseits die Achtsamkeit geschult und andererseits können wir nicht in weltliche Aktivitäten ausweichen, wie wir es normalerweise gewohnt sind. Durch die Praxis wird viel Karma gereinigt, und die Tore zu einer Wiedergeburt in den niederen Bereichen werden geschlossen.

Im französischen Meditationszentrum Montchardon zwischen Grenoble und Valence fand jetzt zum zweiten Mal ein 100-Nyungne-Zyklus statt, von Oktober 89 bis Ende Mai 90. Es gab drei Sitzungen pro Tag, das sind circa neun bis zehn Stunden Meditation täglich. So ging es nonstop sieben Monate auch an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen. Ich habe dieses Retreat mitgemacht, und möchte Euch berichten, wie es dazu kam und wie es war.

100 Nyungnes – ein Abenteuer mit sich selbst
Fasten, Askese? Nicht unbedingt für mich.
Schweigen? Schon eher.
Meditieren auf Chenresig? Immer gut!

So ungefähr war meine Ausgangslage, als ich zum ersten mal über die Nyungne‑Praxis hörte. “Naja, vielleicht irgendwann werde ich auch mal mitmachen…” Zum ersten Nyungne schleppte mich eine Dharmafreundin mit. Das war vor drei Jahren. Probieren geht über studieren und schaden kann’s ja auch nicht, dachte ich mir. Es war hart und ich war froh, als dieses erste Nyungne vorbei war. Aber im Nachhinein fühlte ich mich wie neugeboren, jung, frisch, klar, munter und voller Lebens‑ und Herzensfreude. Das motivierte mich, immer wieder Nyungnes mitzumachen, so daß ich mich mehr und mehr auf die Praxis einließ. Und jedesmal spürte ich anschließend wieder diese klare frische Offenheit, ich fühlte mich wie durchgeputzt. Später hörte ich dann auch Belehrungen von Tenga Rinpoche über die stark karmareinigende Wirkung dieser Praxis und daß sie sehr verdienstvoll sei.

Die berühmte tibetische Nonne Anila Tsewang hat, abgesehen von ihren 25 Ngöndros, schon 100 Nyungnes hintereinander praktiziert – unvorstellbar. Damals durchfuhr es mich wie ein Blitz: Das mal machen können! So wurde in mir der Samen gelegt, dieses Retreat zu machen. Eines Tages erfuhr ich von dem 100 Nyungne‑Retreat. Beim Vorgespräch sah mich Lama Tönsang an und betonte, daß die Bedingungen für ein solches Retreat kostbar seien und auch wieder auseinanderfallen könnten. Da nun die Bedingungen und der Wunsch zusammenkommen, solle ich es jetzt machen. Leicht fiel mir die Entscheidung für dieses Retreat nicht: Sieben Monate meditieren, der Gedanke gefiel mir, aber all die Gelübde? Doch ich habe das tiefe Vertrauen, daß wir alle den Weg, der uns von den Lehrern geschenkt und gezeigt wird, nur zu gehen brauchen. Schritt für Schritt müssen wir den Weg gehen, manchmal auch mutig springen. Und so ein Sprung war für mich dieses Retreat…

Ich glaube, nicht nur für mich, sondern für alle, die die Praxis mitgemacht haben. Dieses Mal waren wir 12 Leute: sechs Franzosen, vier Deutsche, ein Belgier und ein Schweizer. Zu dieser Kerngruppe kamen für einzelne Nyungnes noch viele weitere Praktizierende hinzu. Viele machten einen 8er-Block, das sogenannte “Weiße Nyungne”. Einige wollten nur kurz dazukommen und blieben dann bis zum Schluß, weil es ihnen so gut gefiel. Geleitet wurde dieses Retreat von Lama Tsültrim, einem jungen französischen Lama, der unter Gendün Rinpoche das Dreijahresretreat machte und Lama Tönsang schon lange in Montchardon unterstützt.

Neben den eigentlichen Meditationen waren die Frage‑Antwort‑Stunden besonders intensiv. Hier konnten wir die bei der Meditation auftauchenden Fragen und Erfahrungen klären. In der Gruppe haben wir sehr viel gelacht und uns gegenseitig unterstützt, so daß alle das Retreat gut schaffen konnten. Niemand wurde krank oder mußte das Retreat abbrechen. Wenn man selber mal lasch wurde, halfen einem die Gruppe und der Lama wieder weiter. Es war ein gutes Gefühl, mit Menschen aus verschiedenen Ländern und allen Altersstufen (von 24 bis 68) so eine intensive und dichte Zeit zu verbringen. Montchardon ist ein sehr lebendiger Dharrnaplatz. Die Bewirtung an den Tagen, an denen gegessen wurde, den “Nyungnetagen” war jedesmal ein Fest.

Und ich kann es nur empfehlen: Wenn Du Zeit und Lust hast, raff Dich auf, fahr hin und mach mit. Mann/Frau kann jederzeit mitmachen, auch für kürzer.

Adresse: Centre d’Etudes Tibetaines Montchardon‑Izeron; 38160 St. Marcellin

Renate Scholz

Quelle: http://www.buddhismus-heute.de/archive.issue__5.position__6.de.html